Besiedlung:
Bedingt durch die Topographie der Insel liegen viele Häuser verstreut entlang der Küste. Vor allem an der Südküste gehen die Siedlungen heute ineinander über. Im Gegensatz zu den anderen Azoreninseln gibt es auf São Jorge jedoch zwei verschiedene Siedlungsebenen: die eigentlichen Hochsiedlungen (terra alta) und die Küstensiedlungen (fajas). Besonders auffällig ist auch die Höhenlage: Nur auf Sao Jorge findet man so viele Siedlungen in höheren Lagen, auch über 400 m. Nur wenige Siedlungen reichen bis zum Meer hinunter, mit Ausnahme der zahlreichen Fajas, von denen heute nur noch wenige bewohnt sind.
Siedlungen auf Landzungen / Fajas:
Typisch für Sao Jorge sind die zahlreichen Fajas, die in dieser Anzahl auf keiner anderen Azoreninsel zu finden sind. Diese Siedlungen wurden oft auf Landzungen errichtet, die auf natürliche Weise durch Erdrutsche entstanden sind. Die Häuser lagen und liegen oft sehr abgelegen und sind nur zu Fuß über mühsame Pfade zu erreichen. Kein Wunder also, dass die meisten dieser Fajas heute verlassen sind. Nur wenige Siedlungen sind noch bewohnt – mit wenigen Ausnahmen nur die, die mit dem Auto erreichbar sind. Doch der beschwerliche Weg und die Abgeschiedenheit lohnen sich, denn am Fuße der Steilküste herrscht oft ein besonderes Mikroklima, das den Anbau von Obst und Gemüse begünstigt und sogar den Anbau von Bananen und Kaffee ermöglicht. Oft müssen dafür mehrere hundert Höhenmeter auf Eselspfaden überwunden werden. Wenn auch nicht mehr ständig bewohnt, so werden doch stellenweise die Felder noch bewirtschaftet. Zu Jahresbeginn, wenn es von Januar bis März in den höheren Lagen kühler und nebliger wird, zieht mancher noch in die alten Häuser (meist mit nur einem Raum und einer kleinen Küche) in den Fajas hinunter. Dort ist es angenehmer und die Felder können für das laufende Jahr bestellt werden. Im Sommer, von Juli bis August, kehrt man ein zweites Mal zurück, um die Ernte einzubringen. Dabei handelt es sich vor allem um die Weinlese, denn die Trauben gedeihen hier am Fuße der Küste besonders gut. Noch heute nennt man diese Menschen ‚mudas‘ (mudar-se=umziehen).
Architektur:
Nordamerikanischer Einfluss:
Wie auf vielen anderen Inseln der Azoren haben die Amerikaner auch auf São Jorge ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Einfluss auf den Baustil hinterlassen. Vieles davon wurde jedoch nicht von den Amerikanern selbst, sondern von den aus Amerika zurückgekehrten Azoreanern auf die Insel gebracht. Sie hatten während ihrer Zeit in Amerika neue Baustile, neue Baumaterialien, aber auch neue Techniken kennengelernt.
Besonders auffällige Veränderungen im Baustil waren zunächst die Verwendung von Holz, die wohl hauptsächlich auf die von den Azoreanern in Amerika gebauten Holzhäuser zurückzuführen ist. Die Fenster waren meist kleiner und die Häuser hatten oft Balkone. Auch farblich unterschieden sich die Bauten der Amerikarückkehrer vom typischen Baustil der Azoren: Anbauten wurden oft in einem kräftigen Rot oder Grün gehalten, während das alte Haus in schlichtem Weiß gehalten wurde.
Haus auf dem Haus / casa sobre a casa:
Eines der wichtigsten Zeugnisse des amerikanischen Einflusses auf die Architektur ist das ‚casa sobre a casa‘ – eine Art überdimensionale Dachgaube. Je nach Art und Ausprägung unterscheidet man zwischen der ‚torre‘ und der kleineren ‚torrinha‘. Bei der torre wird ein neues, um 90 Grad versetztes Holzhaus mit eigenem, neuem Dachstuhl, Fenstern und oft einer kleinen Veranda auf den Dachstuhl aufgesetzt. Die kleinere torrinha besteht ebenfalls aus Holz, ist aber kleiner und auch niedriger und hat meist eine steinerne Vorderfront. Giebel, Dachkanten und Dachüberstände wurden bei beiden Typen häufig kunstvoll verziert, oft mit detailreich geschnitzten Holzbändern. Besonders in Velas oder auch in Calheta findet man noch heute hervorragende Zeugnisse dieser abgewandelten Baukunst.
Der Baustil hat natürlich auch einen Hintergrund: Die Auswanderer waren inzwischen mehr Platz gewohnt. Die typischen alten Wohnhäuser auf den Azoren waren eher klein und dicht an die Straßen gedrängt. Da blieb nur der Weg nach oben, um mehr Wohnraum zu bekommen.
Verzierungen / Almofadas:
Ein weiteres typisches Stilelement sind die Almofadas.
Typisches Landhaus / Casa Rural:
Auf São Jorge sind vor allem zwei Bauformen zu beobachten: die geradlinige Bauweise und die L- oder T-förmige Bauweise.
geradlinige Bauweise / Casa Linear:
Die geradlinige Bauweise findet man vor allem entlang der Straßen. Die Häuser haben ein Schlafzimmer (quarto de dormir), einen zentralen Wohnraum (sala de estar) und eine Küche (cozinha), aber keinen Flur, der die Räume verbindet. Man betritt die Räume direkt von der Straße aus. Später kamen zweigeschossige Gebäude (alto-e-baixo) hinzu. Dabei wurde der Wohntrakt vollständig in den ersten Stock verlegt. Im Erdgeschoss (res-do-chao) war nun Platz für landwirtschaftliche Geräte oder Arbeitsutensilien. In den Siedlungen ist im Erdgeschoss oft auch ein Laden untergebracht. Das Obergeschoss wird über eine Außentreppe erreicht.
L- oder T-Form mit separater Küche / Casa com Cozinha Dissociada:
Die T- oder L-Form ist auf Sao Jorge am weitesten verbreitet. Dabei wird die Küche vom eigentlichen Wohnhaus getrennt, das dadurch eine L- oder T-Form erhält. Die Küche erhält dadurch mehr Platz und einen gemauerten Backofen, der schon von weitem an dem markanten Schornstein zu erkennen ist. Auch hier entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine zweigeschossige Variante (Chalet).
Brücken / Pontes:
Aufgrund der vielen Wasserwege auf Sao Jorge finden sich entlang der Hauptstraßen einige Brücken, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erneuert oder erweitert wurden. Meist handelt es sich um Steinbogenbrücken.
Landwirtschaft:
Heulager / Palheiros:
Die meist zweigeschossigen Backsteingebäude dienen in erster Linie der Lagerung von Heu und Futter (vor allem Mais). Neben Ziegeldächern finden sich im Osten von Sao Jorge auch Strohdächer. Hier werden auch landwirtschaftliche Geräte untergebracht. In den Wintermonaten wird im Erdgeschoss der typische Ochsenschlitten (carro de bois / carro do gado) aufbewahrt. Häufig befindet sich im Erdgeschoss auch eine Getreidemühle (atafona). Die Mühlsteine (mos) werden von Rindern oder Eseln angetrieben.
Zisterne / cisterna:
Zu den Ställen und Lagerräumen gehört oft eine Zisterne. Sie dient der Wasserversorgung des Viehs und der Landwirtschaft.
Viehtränke / Bebedouros:
Viehtränken dienen der Sammlung und Bereitstellung von Wasser für das Vieh. Es handelt sich um Zisternen und Becken, die oft in den Boden eingelassen sind. Früher wurden sie mit Zedernholz oder Baumheide abgedeckt, um die Erwärmung und Verdunstung des Wassers zu verhindern. Ein Teil der meist quadratischen Becken bleibt als Viehtränke offen.
Windmühlen / Moinhos de Vento:
Windmühlen wurden auf São Jorge vor allem dort errichtet, wo keine Wassermühlen gebaut werden konnten. Es gibt zwei verschiedene Typen: eine drehbare Mühle aus Holz und ein massiver Mühlenkörper aus Stein. Beide zeigen portugiesischen bzw. flämischen Einfluss. Von den heute noch erhaltenen Mühlen sind sieben von öffentlichem Interesse. Sie sind seit 1983 durch einen Regierungsbeschluss geschützt. Sie befinden sich in Queimada, Urzelina, Manadas, Ribeira Seca, Faja Grande (2) und Topo.
Der zweite Typ mit dem festen Mühlenkörper aus Stein (moinho fixo) zeigt flämischen Einfluss. Sie haben eine kleine konische Kuppel, unter der sich das Mahlwerk befindet.
Bei beiden Mühlentypen befindet sich das Mahlwerk im Sockel der Mühle, so dass es leicht zugänglich ist.
Die heute noch betriebenen Mühlen werden jedoch ausschließlich von Motoren angetrieben.
Wassermühlen / Moinhos de Agua:
Vor allem im östlichen Teil von Sao Jorge ist der Betrieb von Wassermühlen möglich. Die Technik wurde bereits mit den ersten Siedlern auf die Insel gebracht. Auf der Insel gibt es zwei verschiedene Typen: Wassermühlen mit horizontalem und mit vertikalem Wasserrad. Die Wassermühlen mit horizontalem Schaufelrad (moinho de rodete) wurden vor allem in relativ flachem Gelände ohne große Höhenunterschiede im Wasserlauf eingesetzt. Die klassischen Wassermühlen mit vertikalem Schaufelrad (azenhas) wurden überall dort eingesetzt, wo das Gefälle groß genug war.
Dreschplätze / Eiras:
Dreschplätze sind kreisförmige Flächen, auf denen das Getreide getrocknet und anschließend mit dem Flegel (malho) gedroschen wird. Während des Jahres wird der Platz auch als Tanzplatz genutzt. Zwei Dreschplätze befinden sich z.B. in Urzelina und Faja dos Vimes.
Brunnen / Fontanario, Chafariz:
Über die ganze Insel verteilt gibt es zahlreiche Brunnen, von denen die meisten noch heute in Betrieb sind. Viele stammen aus dem 19. Jahrhundert, als die Wasserversorgung der Bevölkerung ausgebaut wurde. Die kleinen Becken davor dienten auch zum Tränken des Viehs. Sie bestehen aus tiefschwarzem Basalt und sind oft verziert. Der Brunnenkörper ist verputzt und weiß gestrichen. Eine behauene Steintafel weist immer auf den Bau hin.
Ochsenkarren / Carro de Bois:
Der Ochsenkarren war lange Zeit das wichtigste Transportmittel auf der Insel. Allein in Norte Grande gab es beispielsweise Mitte des 20. Jahrhunderts noch 65 komplette Gespanne. Er hat zwei große, mit Stahl beschlagene Räder und wird von zwei Ochsen gezogen. Es gibt aber auch eine Version, die nur von einem Ochsen gezogen werden kann. Die Wagen sind aus Holz (meist Eukalyptus, Pappel oder Pau Branco) und ähneln sehr denen aus Nordportugal. Der Wagen hat einen geflochtenen U-förmigen Weidenkorb für den Transport. Obwohl die Wagen langsam waren, konnten sie große und schwere Lasten transportieren. Heute sieht man nur noch wenige dieser Gespanne auf den Straßen.
Eine Sammlung besitzt die Familie Fontes in Rosais (Outeiro da Ponte, 21 an der Straße Velas-Rosais).
Kutschen / Carroca, Charrete:
Kleinere Fahrzeuge werden für den Transport von Personen und Milch zu den Sammelstellen verwendet. Sie werden von Pferden und Eseln gezogen und sind heute noch häufig anzutreffen, vor allem mit Milchkannen aus Aluminium.
Landwirtschaftliche Geräte / Alfaias:
Traditionelle Geräte werden auch heute noch häufig in der Landwirtschaft eingesetzt. Und obwohl in fast jeder Familie noch traditionelle Gegenstände und Werkzeuge zu finden sind, gibt es nur selten die Möglichkeit, diese zu sehen.
Eine Sammlung hat die Familie Fontes in Rosais (Outeiro da Ponte, 21 an der Straße Velas-Rosais). Weitere Sammlungen befinden sich im Centro de Exposicao Rural am Hafen von Urzelina, in der Quinta do Canavial westlich von Velas und in der Bar Tamanco in Velas (Rua da Gruta).
Walfang:
Walausguck / Vigia da Baleia:
Die Vigias sind kleine gemauerte Ausguckhäuschen, die an exponierten Stellen rund um die Insel hoch über dem Meer errichtet wurden. Sie sind außen weiß gestrichen, damit sie vom Meer aus schnell zu erkennen sind. Ihre Form erinnert manchmal an einen kurzen, vieleckigen Turm. Zum Meer hin haben die Vigias einen sehr schmalen, aber breiten Sehschlitz, durch den man den gesamten Horizont überblicken kann. Mit einem Fernglas kann man so Wale bis zu einer Entfernung von 30 Meilen ausmachen. Früher hing der Erfolg beim Walfang entscheidend von den guten Augen des Beobachters ab.
Heute gibt es nur noch wenige Beobachtungsposten rund um Sao Jorge. Einer dieser Ausgucke befindet sich auf dem Morro Grande bei Velas, ist aber inzwischen halb verfallen.
Weinbau:
Anbaugebiet:
Der Weinbau wurde im 15. Jahrhundert mit den ersten Siedlern auf die Insel gebracht. Nachdem man auf Sao Miguel und Terceira bereits gute Erfahrungen mit dem Weinbau gemacht hatte, wurden auch große Teile der Südküste von Sao Jorge mit neuen Reben bepflanzt. Die Bedingungen für den Weinbau waren ideal. Der Anbau erstreckte sich von der Ribeira da Almeida bei Velas und Queimada bis nach Manadas. Auch an der Faja dos Vimes, der Faja de Sao Joao, der Faja do Ouvidor und der Faja Grande wurde Wein angebaut. Diese Gebiete waren für den Getreideanbau weitgehend ungeeignet. Daher war der Weinbau eine willkommene Alternative. Vor allem das Gebiet von Queimad bis hinunter nach Manadas war dafür besonders geeignet. So wurde in der Gegend von Casteletes zwischen Urzelina und Manadas eine Zeit lang der angeblich beste Wein der Azoren produziert.
Anbau:
Hier wurden vor allem Verdelho und Terrantes angebaut, aber auch Moscatel, Alicante und Bastardo. Im Gegensatz zu den arrondierten Weinbergen auf Graciosa oder um Biscoitos auf Terceira war der Weinbau auf São Jorge oft verstreut. Natürlich gab es auch Weingärten (currais), die durch aufgeschichtete Steinmauern aus tiefschwarzem Basaltgestein geschützt waren. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden auf diese Weise auf São Jorge jährlich mehrere tausend pipa Wein (1 pipa = 550 Liter) produziert, allein um Queimada etwa 1.500 pipa. Das war weit mehr, als auf der Insel konsumiert werden konnte, so dass der Wein von São Jorge schon früh exportiert wurde. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts pendelte sich die Jahresproduktion bei 10.000 Pipas ein. Auch auf der Weltausstellung in Paris 1867 wurde der Wein sehr geschätzt. Doch 1854 endete der Erfolg des Weins abrupt.
Der Niedergang des Weinbaus:
Wie auf allen anderen Inseln vernichtete der Echte Mehltau (Oidium tuckeri) in kurzer Zeit die meisten Rebstöcke. Ein weiterer Rückschlag war das Auftreten der Reblaus, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast alle verbliebenen Rebstöcke um Calheta vernichtete. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden erneut Versuche unternommen, den Weinbau wieder zu beleben. Der Barao do Ribeiro in Urzelina war daran ebenso beteiligt wie Miguel Teixeira Soares, Martha Pereira da Silveira und A. Soares D’Albergaria, die die Plantage Izabela betrieben.
Orangenanbau:
Anbaugebiet:
Ebenso wichtig wie der Wein für den Export war der Anbau von Orangen. Das Hauptanbaugebiet erstreckte sich von Santo Amaro über Urzelina, Ribeira Seca bis Faja de Sao Joao, also entlang der Südküste.
Orangenanbau:
Die Orangen wurden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Sao Jorge gebracht. Es wurden auch Bitterorangen, Mandarinen und sogar Zitronen angebaut. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte der Orangenanbau einen Boom, der bis ins 19.
Niedergang der Orangen:
Mitte des 19. Jahrhunderts trat auch auf São Jorge die Gemeine Napfschildlaus (Cocus Hesperidum) auf, die auch auf allen anderen Inseln die Orangenbäume schädigte und schließlich zum Absterben brachte. Noch bis 1870 konnten Orangen vor allem nach England exportiert werden. Danach reichten die immer weniger werdenden Bäume nur noch für den Eigenbedarf oder den Verkauf auf den Nachbarinseln, vor allem auf Faial.
Herrenhäuser / Solares:
Der Orangenanbau brachte einigen Familien Reichtum und Wohlstand. Wer an der Südküste lebte oder dort viel Land besaß, hatte gute Chancen, reich zu werden. So entstanden zahlreiche Herrenhäuser (Solares). Die meisten und vielleicht auch schönsten findet man entlang der Hauptstraße und der Rua do Desterro in der Gegend von Ribeira do Nabo und Faja de Santo Amaro. Aber auch in Calheta und Urzelina gibt es noch gut erhaltene Herrenhäuser, die teilweise fast palastartige Ausmaße erreichen und noch sehr gepflegt sind.